Am Ende einer Woche, die die Weltpolitik veränderte, scheint wenigstens in der Kantine des Brüsseler Ratsgebäudes kurzzeitig alles normal zu sein. Dort hat das Personal Dutzende kleine Flaggen an die Decke gehängt – auch eine russische. Sie baumelt am Stand für vegetarische Gerichte, gleich neben der belgischen. Ein selten gewordener Anblick bei Gipfeln mit westlichen Staaten. Offizielle der EU stören sich daran und lassen später am Abend alle Flaggen entfernen.

Ein paar Etagen darüber kommen am Donnerstag die 27 Staats- und Regierungschefs der EU zusammen. Sie treffen sich zu einem Gipfel, den viele zuvor als historisch beschrieben haben, als wegweisend für die Zukunft des Kontinents, sogar von einem „Kriegsgipfel“ ist die Rede. Es geht um Russland und die Ukraine und die Sorge, dass Amerika unter seinem Präsidenten Donald Trump dem alten Verbündeten Europa im Falle eines Angriffs nicht zu Hilfe eilen würde.

Am Donnerstag fordern die Spitzenpolitiker, die EU müsse unabhängiger von den USA werden und massiv aufrüsten. Das stehe außer Frage, sagt der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz nach dem Abendessen im Europagebäude. Es hat Kabeljau und Garnelen gegeben, dazu geschmorten Lauch. Der polnische Premierminister Donald Tusk spricht sogar von einem „Wettrüsten“ mit Russland. Die EU, meint er, müsse einsteigen. „Ich bin überzeugt, dass Russland dieses Wettrüsten verlieren wird“, so Tusk, „genau wie die Sowjetunion vor 40 Jahren eines verlor.“

In der zweiseitigen Gipfel-Erklärung der Staats- und Regierungschefs heißt es am Ende: Die EU werde ihre „Verteidigungsbereitschaft erhöhen“ und ihre „Abhängigkeiten verringern“. Zudem wollen die Länder eine Idee Ursula von der Leyens prüfen. Brüssel, so hat es die Präsidentin der EU-Kommission Anfang der Woche vorgeschlagen, könnte 150 Milliarden Schulden aufnehmen. Von dem Geld sollen die nationalen Regierungen gemeinsam Waffen kaufen, Raketen, Drohnen und Granaten auf Kredit, das ist der Plan.

Scholz leitet radikalen Kurswechsel ein

Zudem sprechen sich die Spitzenpolitiker für eine Lockerung der europäischen Schuldenregeln aus. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt soll eigentlich dafür sorgen, dass alle Staaten verantwortungsvoll haushalten und keiner über seine Verhältnisse lebt. Doch künftig möchten die Regierungen erhöhte Ausgaben für das Militär nicht in die Berechnung von Defiziten einbeziehen. So können sie Strafen aus Brüssel vermeiden.

Am Donnerstag setzt sich Scholz vehement für eine Aufweichung der Schuldenregeln ein – und vollzieht damit einen radikalen Kurswechsel. Jahrelang hat er strenge Haushaltsdisziplin in der EU gefordert und andere Staaten zur Sparsamkeit gemahnt. Nun sitzt er in einem kleinen Raum im Keller des Europagebäudes vor Journalisten und sagt: Es sei wichtig, dass man „im Hinblick auf Stabilitätskriterien ein bestimmtes Maß an Rüstungsaufgaben für die nächsten Jahre ausnimmt.“

Vieles, was an diesem Abend beschlossen wird, klingt technisch. Aber am Ende geht es um nichts weniger als den Beginn der Aufrüstung Europas. Nach Jahren des Zögerns ringen sich die Staats- und Regierungschefs dazu durch, den Stabilitäts- und Wachstumspakts – ein zentrales Regelwerk der europäischen Wirtschaftspolitik – zu lockern. Es ist eine ganz eigene Zeitenwende. „Ich denke“, sagt Scholz, „wir müssen Entscheidungen treffen, die es uns erlauben, mehr Geld auszugeben.“

In einer zweiten Erklärung sagen 26 der 27 EU-Staaten der Ukraine weitere Hilfen zu. Viktor Orbán, der Regierungschef Ungarns, will das nicht mittragen. Die Diskussion zu dem Thema, sagen Teilnehmer, habe gerade einmal 15 Minuten gedauert. Orbáns Position war schon vor dem Gipfel klar. Und ebenso klar war, dass er sich nicht davon abbringen lassen würde. Also haben es seine Amtskollegen auch kaum versucht.

Sie bekräftigen in der Erklärung, dass sie die „Unabhängigkeit, Souveränität und territoriale Unversehrtheit der Ukraine innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen“ uneingeschränkt unterstützen – inklusive Waffenlieferungen. Außerdem fordern sie glaubwürdige Sicherheitsgarantien und keine Friedensverhandlungen ohne ukrainische oder europäische Vertreter.

Dem Treffen in Brüssel waren turbulente Tage vorausgegangen. Zuerst stritten sich Trump und der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, im Weißen Haus vor laufenden Kameras. Dann stoppte der Amerikaner die Lieferung von Waffen und die Weitergabe geheimdienstlicher Informationen an das Land. All das nährt die Sorge, dass die europäische Sicherheitsarchitektur kollabiert. Dass der Kontinent nicht länger auf den Schutz der Amerikaner zählen kann und nun auf sich gestellt ist.

In Brüssel stellen die Politiker am Donnerstag dennoch Gelassenheit zur Schau. Von der Leyen begrüßt Selenskyj auf dem roten Teppich im Foyer des Europagebäudes herzlich, Küsschen links, Küsschen rechts, gespielte Sorglosigkeit. „Wie läuft’s so?“, fragt Selenskyj. „Gut, gut“, sagt von der Leyen. Die beiden müssen über ihre Antworten selbst kurz lachen. Small Talk in Zeiten der Krise.

Und die verschärft sich nun wohl noch. Der Stopp der amerikanischen Militärhilfe dürfte die Ukraine hart treffen, es geht, hört man, um Waffen im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar. Auch das Ende der Weitergabe geheimer Daten könnte dramatische Folgen haben. Die ukrainischen Streitkräfte nutzen etwa Informationen der CIA, um russische Raketen abzufangen.

Im Europagebäude habe das Treffen mit Selenskyj 90 Minuten gedauert, wie ein EU-Beamter erzählt, etwas länger als geplant. Es sei vor allem um die „andauernden diplomatischen Bemühungen“ des ukrainischen Präsidenten gegangen. Die Formulierung legt nahe, dass das desaströse Treffen mit Trump vor einer Woche ein Thema war – und die Frage, ob Europa die Lücke, die Amerika jetzt hinterlässt, füllen kann.

Deutschlands Kehrtwende dürfte Selenskyj freuen. Vor dem Gipfel hatten Union und SPD in ihren Sondierungsgesprächen vereinbart, die Schuldenbremse zu reformieren. Künftig sollen Kredite für alle Verteidigungsausgaben oberhalb von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts von der Regel ausgenommen sein. Zudem soll es ein Sondervermögen mit 500 Milliarden Euro für die Infrastruktur geben, also etwa zur Sanierung von Straßen, Schienen und Brücken.

Andere hingegen sind offenbar skeptisch. Österreich, Schweden und die Niederlande, sagen EU-Diplomaten, hätten wenig Interesse daran, die europäischen Schuldenregeln neu zu verhandeln. Sie waren einst die verlässlichen Verbündeten der Bundesregierung im Kampf gegen eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Seit Donnerstag stehen sie ohne Deutschland da.

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