Wladimir Putin wird Europa und die Nato zeitnah testen, davon sind Historiker Sönke Neitzel und Politologe Carlo Masala überzeugt. Auch für das Wo und Wie haben die beiden Militärexperten ein Szenario vor Augen: Im "ntv Salon" erklären sie, warum die estnische Grenzstadt Narwa über den Fortbestand der Nato entscheiden könnte. Ihr Wunsch? Die Politik und die breite Bevölkerung wachrütteln. Denn an den Absichten des russischen Präsidenten besteht ihnen zufolge keinerlei Zweifel: Putin will das geografische "Vorfeld" Russlands politisch, ökonomisch und militärisch dominieren.

ntv.de: Herr Masala, Sie haben ein Buch mit dem Titel "Wenn Russland gewinnt" veröffentlicht. Was passiert denn, wenn Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt?

Carlo Masala: Dann verschlechtert sich die Sicherheitssituation für Europa dramatisch und wir können nicht ausschließen, dass Russland in einigen Jahren den politischen Zusammenhalt der Nato testen wird. Denn es ist das erklärte Ziel Russlands, die europäische Sicherheitsarchitektur rückabzuwickeln. Die Nato ist ein großes Hindernis dafür.

Herr Neitzel, Sie sehen den "letzten Sommer in Frieden" herannahen. Das machen Sie am "Zapad"-Manöver fest, das Russland im September in Belarus abhalten wird - an der Grenze zu Litauen. Sie sagen, Russland könnte nach Abschluss des Manövers die Grenze Richtung Vilnius überschreiten. Woher wissen Sie das?

Sönke Neitzel: Ich arbeite nicht beim Bundesnachrichtendienst und weiß nicht, was die Zukunft bringt. Aber wenn man die Blase der deutschen Sicherheitspolitik verlässt und mit der lettischen, litauischen oder polnischen Szene spricht, erlebt man einen anderen Diskurs. Dort haben auch die informierten Militärs Angst, denn wir haben am 24. Februar 2022 gesehen: Manöver sind eine ideale Vorbereitung für Kriege. Deswegen sollte man nichts mehr ausschließen, sondern in Szenarien denken. Wir sind sehr fixiert auf das Szenario 2029 und glauben, dass wir Zeit zum Aufrüsten haben. Ich bin wie Carlo überzeugt: Wladimir Putin denkt in Opportunitäten und wird uns vorher testen. Deshalb sollten wir so handeln, als könnte dies unser letzter Sommer in Frieden sein.

Können Sie nachvollziehen, dass Kritiker sagen: Mensch, der Historiker … muss immer noch eine Schippe drauflegen. Unterhalb von Weltkrieg geht wohl gar nichts mehr.

Sönke Neitzel: Um einen Weltkrieg geht es eben nicht, sondern ums Testen: Wir reden vom Narwa-Szenario, nicht von einem Großangriff auf Warschau.

Carlo Masala: Der Vorwurf ist auch deshalb unsinnig, weil seit einem Dreivierteljahr so gut wie jeder Geheimdienst in Europa sagt: Russland stellt seine militärische Stärke wieder her und will bald stärker sein als 2022. Wir legen keine Schippe drauf, sondern machen uns Gedanken, wie dieses Test-Szenario aussehen könnte. Politisch kann man natürlich sagen, das wird nicht passieren. Aber dann laufen wir in dieselbe Falle, in die wir 2021 gelaufen sind: Wir werden erneut überrascht, wenn Putin mit seinen Truppen die Grenze überquert.

Narwa ist eine estnische Grenzstadt mit 50.000 Einwohnern. Nach dem Militärmanöver in Belarus würde die russische Armee mit der Begründung einmarschieren, es müsse die russische Minderheit in Narwa schützen. Die Nato weiß in diesem Fall nicht, ob sie für eine so kleine Stadt einen Krieg riskieren soll und macht … nichts. Das ist das Szenario?

Carlo Masala: Genau. Damit wäre die Nato politisch tot.

Aber das weiß die Nato doch und wird sich genau auf dieses Szenario vorbereiten.

Carlo Masala: Das macht sie auch, aber die Frage bleibt: Riskieren wir für eine kleine Stadt einen vollumfänglichen Konflikt mit 1,5 Millionen russischen Soldaten - immer an der Schwelle zum Nuklearkrieg?

Natürlich nicht.

Carlo Masala: Sehen Sie.

Sönke Neitzel: Wo ziehen Sie die Grenze? Bei Vilnius? In Warschau? Auf den Seelower Höhen? Das meinen wir mit Austesten. Russland nimmt diese Diskussion doch wahr und empfindet uns deswegen als schwach. Wir kennen diese Debatten auch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg von rechtsradikalen Franzosen: Mourier pour Dantzig? Wir sollen sterben, wenn die Deutschen in Danzig einmarschieren? Frankreich und Großbritannien hätten den Zweiten Weltkrieg direkt beenden können, wenn sie im September 1939 mit einer überlegenen Streitmacht nach Deutschland marschiert wären. Darauf haben sich die Polen verlassen. Die haben bis Anfang Oktober 1939 gekämpft - und vergeblich gewartet. Ich sehe Parallelen zu dieser Situation und möchte deswegen wachrütteln. Denn die Nato ist nur so stark wie ihre Staats- und Regierungschefs.

Carlo Masala: Und bei denen sieht man bereits Bruchlinien. Würde Viktor Orban einer militärischen Reaktion gegen Russland zustimmen? Nein. Robert Fico? Nein. Auch Donald Trump lässt erhebliche Zweifel an seiner Unterstützung der Nato aufkommen. In Frankreich könnte 2027 Marine Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewinnen. Beurteilt sie die Situation wie die baltischen Staaten oder Polen? Das kann man ebenfalls in Abrede stellen.

Was machen wir jetzt? Wem gilt Ihr Appell? Der Bevölkerung? Die Politik weiß das doch …

Sönke Neitzel: Mit der Politik ist es immer so eine Sache. Man hat manchmal das Gefühl, man redet mit einem lahmen Gaul. Carlo, ich und etliche andere sind lange Jahre jämmerlich daran gescheitert, Fachexpertise in die Politik zu bringen, aber wir versuchen es weiter, denn wir müssen überlegen: Welche Dinge sind außerhalb der Nato möglich? Deutschland kann national entscheiden, eine Brigade nach Litauen zu verlegen. Auch die Amerikaner haben bilaterale Verträge. Aber auf dieses Szenario muss sich die Bundesregierung vorbereiten, das darf man nicht ignorieren.

Carlo Masala: Speziell das Narwa-Szenario ist auch als Anregung für ein breiteres Publikum gedacht, nicht nur für Kommandostäbe. Denn dieser Diskurs ist in Deutschland nicht sehr präsent. Viele Leute halten einen russischen Angriff für übertrieben, für Quatsch oder Kriegstreiberei. Ganz nüchtern betrachtet, ist er aber im Bereich des Denkbaren.

Im Bereich des Denkbaren sind viele Dinge. Welches Interesse hätte Russland daran, in Estland einzumarschieren?

Carlo Masala: Eine der zentralen Forderungen Russlands ist die Rückabwicklung der europäischen Sicherheitsarchitektur auf den Stand von 1997 - vor der Nato-Osterweiterung. Das steht in dem Brief, den der russische Außenminister Lawrow am 17. Dezember 2021 im Namen von Putin nach Washington und Brüssel geschickt hat. Darüber wollte Putin damals verhandeln. Das ist auch heute seine Vorbedingung, um irgendeiner Waffenruhe in der Ukraine zuzustimmen. Das haben wir uns nicht ausgedacht.

Und was hat er davon?

Carlo Masala: Ohne US-Streitkräfte in dieser Zone wäre es wesentlich einfacher, das geografische "Vorfeld" politisch, ökonomisch und militärisch zu dominieren. Wir wissen aus der Geschichte: Wenn sich kleine Staaten in geografischer Nähe eines aggressiven Staates befinden und keinen Partner haben, der ihnen hilft, sich zu verteidigen, werden sie über kurz oder lang in den Einflussbereich des aggressiven Staates gezogen. Das droht den Balten ohne Nato- oder US-Truppen.

Sönke Neitzel: Schon Boris Jelzin ist nach dem Ende des Kalten Krieges davon ausgegangen, dass sich die Amerikaner endlich aus Europa zurückziehen werden und Bill Clinton ihm Europa überträgt - nicht im Sinne einer Annexion, aber schon als militärischer Hegemon. Das war mit einem Großteil der westdeutschen Bevölkerung aber nicht verhandelbar. Die wollten, dass die Amerikaner bleiben. Jetzt haben wir im Bereich von BSW, Linkspartei und AfD Leute wie Frau Dagdelen, die wie Putin sagen: Amis, go home! Deutschland würde dadurch nicht russisch werden, müsste seine Handelspolitik und andere Dinge aber neu ausrichten. Das ist aus russischer Perspektive auch nachvollziehbar, die wollen sich nicht in eine liberale Weltordnung einfügen. Aber die osteuropäischen Staaten sehen doch, dass Russland ihnen nichts anzubieten hat. Auch die Ukraine hat nach Osten und Westen geschaut und sich gefragt, ob sie nach Russland oder nach Polen will.

Nach Polen, also Westen.

Carlo Masala: Ja. In Deutschland herrscht nach wie vor die Vorstellung vor, der Westen hat Russland mit der Nato-Osterweiterung provoziert. Die Historikerin Mary Sarotte hat darüber ein dickes Buch geschrieben und nachgewiesen: Die Nato-Osterweiterung war eigentlich kein Problem. Das Problem ist die Demokratie direkt vor der Haustür. Man kann über die Ukraine sagen, was man möchte. Letzten Endes gab es in den vergangenen zehn Jahren vier Präsidenten. Die wurden gewählt und wieder abgewählt.

Sönke Neitzel: Das gibt's in Russland nicht!

Carlo Masala: Und in Belarus auch nicht. In der Ukraine sehen die Russen, dass man Slawe sein und trotzdem in einer Demokratie leben kann. Für Putin gibt es nichts Schlimmeres, als wenn dieser Wunsch nach Russland schwappt. Davor hat er mehr Angst als vor der Nato.

Wie gehen wir damit um?

Sönke Neitzel: "Umgehen" ist eine leidige Diskussion. Klar, man muss die russischen Interessen berücksichtigen. Klar, man kann Russland nicht wegbomben. Aber im Kalten Krieg hat das doch auch geklappt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die westlichen Staaten einen Weg gefunden, mit den Revisionsmächten Deutschland, Italien und Japan "umzugehen". Ich bin nicht gegen Diplomatie, aber damit werden wir bei Putin nichts erreichen. Der wird weiter auf die militärische Karte setzen. Dafür müssen wir uns wappnen, denn bestimmte Dinge sind nicht verhandelbar: Wir können die Ukraine nicht aufgeben, denn dann verraten wir alle westlichen Prinzipien und werden Teil einer russischen Machtordnung.

Carlo Masala: Solange Russland neoimperiale Ambitionen hegt, ist die Hauptaufgabe: Russland abschrecken und eindämmen, damit es diese Ambitionen nicht verfolgen kann. Das verstehe ich unter "Umgehen". Selbst Willy Brandt hat für seine Friedenspolitik im Verteidigungshaushalt erst einmal draufgesattelt. Warum? Um Russland abzuschrecken und einzudämmen.

Mit Carlo Masala und Sönke Neitzel sprachen Frauke Niemeyer und Tilman Aretz. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das vollständige Gespräch können Sie sich hier als Podcast anhören oder hier anschauen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke