Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf, so steht es im Grundgesetz. Die höchsten deutschen Gerichte verstehen diesen Satz als Gebot, eine funktionsfähige Bundeswehr zu unterhalten. Um eine dafür ausreichende Zahl an Soldaten zu gewinnen, auch das steht in der Verfassung, können Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet werden.
Die künftige Bundesregierung aber will „zunächst“ auf die Wehrpflicht verzichten, wie es im schwarz-roten Koalitionsvertrag heißt, und bei der Rekrutierung weiter auf Freiwilligkeit bauen. Lediglich „die Voraussetzungen für eine Wehrerfassung und Wehrüberwachung“ sollen geschaffen werden, um jungen Männern und Frauen mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres einen Fragebogen zusenden zu können. Die Männer müssen ihn ausfüllen, die Frauen dürfen.
So sollen zunächst 5000 zusätzliche freiwillige Rekruten pro Jahr gewonnen werden. Die Zahl soll dann jährlich mit dem Ausbau von Ausbildungs- und Unterbringungsinfrastruktur steigen, um am Ende des Jahrzehnts auf ein Personalziel von 460.000 zu kommen, davon 200.000 aktive Soldaten und 260.000 Reservisten. Das ist der Bedarf, den Generalinspekteur Carsten Breuer aus den neuen Nato-Fähigkeitszielen abgeleitet hat. Es bedeutet eine Verdopplung des Status quo von aktuell rund 230.000 aktiven Soldaten und Reservisten.
Im Vergleich zu früher ist das wenig. Im Kalten Krieg hielt die Politik für den Auftrag, Deutschland und das Nato-Bündnisgebiet im Ernstfall gegen Angriffe des Warschauer Paktes verteidigen zu können, eine Wehrpflichtarmee in der Größenordnung von knapp 500.000 aktiven Soldaten plus 800.000 Reservisten für nötig. Nach 1990 und dem Wegfall der sowjetischen Bedrohung schrumpfte die Zielmarke an aktiven Soldaten beständig, von 370.000 über 340.000 und 250.000 auf 185.000 Soldaten im Jahr 2011. Gleichzeitig wurde die Wehrpflicht ausgesetzt.
Nach dem Schock des ersten Ukraine-Kriegs 2014 wurde das Personalziel erstmals wieder nach oben korrigiert, auf 203.000 Berufs- und Zeitsoldaten sowie freiwillig Wehrdienstleistende. Das soll nun weiter gelten, weil „der Arbeitsmarkt angesichts des demografischen Wandels“ nicht sehr viel mehr hergebe, wie Breuer WELT sagte.
Tatsächlich scheint es für die Rekrutierung von Freiwilligen eine bleierne Decke zu geben. In den 14 Jahren seit Aussetzung der Wehrpflicht erreichte die Bundeswehr nie ihre vorgesehene Größe. Derzeit gibt es nur rund 182.000 aktive Soldaten.
Der Bedarf an Reservisten lag laut Bericht der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) im Jahr 2024 bei rund 90.000, beordert werden konnten knapp 50.000. Egal, was sich das Personalmanagement in den vergangenen Jahren an Attraktivitätsmaßnahmen ausdachte, immer blieb es am Ende bei jener Feststellung, die Högl so formuliert: „Die Bundeswehr schrumpft und wird älter.“
Obwohl die russische Bedrohung zurück ist, die Bundesregierung ihre Streitkräfte bis spätestens 2029 kriegstüchtig machen will und sich dafür keine finanziellen Limits gesetzt hat, bleibt es bei der Personalgewinnung beim Prinzip Hoffnung.
Breuer spricht von Strukturen für 60.000 Reservisten, die es bereits gebe. Und er rechnet mit 100.000 weiteren Reservisten, die aus dem Pool der 800.000 ehemaligen Soldaten kommen sollen, die über die Jahre hinweg ausgeschieden sind. Die verbleibende Lücke von 100.000 Reservisten schließlich soll durch die neue Wehrerfassung samt Fragebögen bis 2029 geschlossen werden.
Doch diese Rechnung hat so einige Unbekannte.
Nur wenige Offiziere glauben an den Plan
Zunächst fehlen rund 20.000 aktive Soldaten bis zur Zielmarke von 203.000. Dann mag es Strukturen für 60.000 Reservisten geben, aber die sind noch nicht gänzlich befüllt. Die 100.000 weiteren Reservisten sind ein Hoffnungswert, und sollten sie gefunden werden, werden sie den Altersschnitt der Truppe noch einmal erhöhen. Bislang hat man nicht einmal Daten wie Anschrift und Gesundheitszustand zu diesem Personenkreis, wie Breuer gegenüber WELT eingesteht, jedenfalls „nicht umfassend. Wir haben erst in den letzten Jahren angefangen, diese detailliert zu erheben.“
Wer sich im Generalstab der Bundeswehr umhört, findet nur wenige Offiziere, die an den Plan glauben. Es werde nicht ausreichen, sich ausschließlich auf Freiwilligkeit zu verlassen, sagte Generalleutnant Harald Gante, Kommandeur des Feldheeres, Anfang März der Deutschen Presse-Agentur. „All die zusätzlichen Aufgaben, die wir heute im Bereich Heimatschutz sowie der Landes- und Bündnisverteidigung bewältigen müssen, werden ohne deutlich mehr Personal nicht funktionieren – und das kann man nur mit Wehrpflichtigen machen“, sagte Gante.
Das gelte auch für die Reserve: „Wenn wir die sogenannte doppelte Freiwilligkeit dort als Maßstab anlegen – das heißt, der Arbeitgeber und die Person müssen mit einer Übung einverstanden sein – wird das nicht funktionieren.“
General Breuer aber erteilte seinem Minister keinen militärischen Rat zur Reaktivierung der Wehrpflicht: „Das ist eine rein politische Frage, dazu gibt es keine militärische Ableitung.“ Und politisch ist es so, dass die SPD keine Pflicht will und die Union sich in den Verhandlungen fügte. „Das Personalproblem der Bundeswehr ist nicht nur eine Mammutaufgabe, sondern auch die Achillesferse aller Planungen“, sagte der CSU-Verteidigungsexperte Florian Hahn WELT. „Ohne ausreichend Personal haben wir schlechterdings keine verteidigungsfähigen Streitkräfte für die Bündnis- und vor allem Landesverteidigung.“
Die Union sehe das Erfordernis des schnellen Aufwuchses, so Hahn: „Deshalb müssen, wie im Koalitionsvertrag verankert, nun schnell die Voraussetzungen geschaffen werden, um zügig, anfangs und so lange ausreichend, auf freiwilliger Basis Wehrpflichtige auszubilden.“ Wenn das nicht mit Hochdruck geschehe, sei er „pessimistisch, was die Erreichbarkeit von einer Stärke von 460.000 bis zum Ende des Jahrzehnts angeht“.
Hans-Peter Bartels, Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, nennt die „koalitionäre Angst vor einem verpflichtenden Wehrdienst aberwitzig“. Das Prinzip der Wehrpflicht sei über Jahrzehnte erprobt, es sei der Normalfall: „Es ist die existenzielle Versicherung unseres Landes für den Ernstfall. Und jetzt ist es wieder ernst.“
Der frühere Wehrbeauftragte von der SPD hält „die Zögerlichkeit, Umständlichkeit und Langatmigkeit der Wiederherstellung deutscher Verteidigungsfähigkeit“ für ein Problem. 1955 sei die neu gegründete Bundeswehr innerhalb von zehn Jahren auf zwölf Heeresdivisionen gewachsen: „Dagegen liegt der Aufwuchs des aktuellen Heeres in dem Jahrzehnt seit dem ersten Ukraine-Krieg 2014 nahe null.“ Zwar wurde gerade eine vierte Division aufgestellt, aber die besteht aktuell nur aus Powerpoint-Folien.
Die Koalition werde „nicht darum herumkommen, die 2011 ausgesetzte Pflicht gesetzlich wieder aufleben zu lassen“, sagte Bartels WELT. Nach seiner Lesart ließe der Koalitionsvertrag einen solchen Kurswechsel ausdrücklich zu. „Gewiss kann man erst einmal sagen: Freiwilligkeit first“, so Bartels. „Aber eben nicht mehr: Freiwilligkeit only.“ Weil es kein funktionierendes Rekrutierungskonzept für die personelle Bedarfsdeckung auf der Grundlage reiner Freiwilligkeit gebe, drohe ansonsten eine „Geisterarmee“.
Andere Experten sehen es ähnlich. André Wüstner, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes, sieht die Personalgewinnung als zentrale Herausforderung der nächsten Jahre: „Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der neuen Nato-Fähigkeitsziele, die nochmals mehr von der Truppe abfordern werden.“ Klappe der Personalaufwuchs nicht, so Wüstner, „wird die Bundeswehr in der nächsten Legislaturperiode implodieren. Immer mehr Aufträge mit immer weniger Personal – das ist schlicht nicht mehr leistbar“, sagte Wüstner WELT. Eine Wehrpflicht werde nicht zum Krieg führen, sondern diene im Gegenteil der Abschreckung und damit einem Leben in Frieden und Freiheit.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam macht auf eine Unschärfe im Koalitionsvertrag aufmerksam. Dort heißt es nämlich, man orientiere sich am „schwedischen Wehrdienstmodell“. Das aber würde bedeuten: Wenn sich nicht genug Freiwillige melden, werden diejenigen, die der Musterungsbehörde nach der Fragebogenprozedur am besten geeignet erscheinen, verpflichtet. Auch Deutschland müsse deshalb „die Wehrpflicht wieder einführen“, sagte Neitzel bei n-tv. „Diese Sache mit der Freiwilligkeit, die die SPD da reingeschrieben hat – da musste ich mich erst mal ärztlich versorgen lassen“, so beschrieb der Professor seine Lektüre des Koalitionsvertrags. Die SPD sei „offenbar ein Sicherheitsrisiko“.
Carlo Masala, Politikwissenschaftler an der Bundeswehr-Universität in München, bezweifelte bei n-tv ebenfalls den Erfolg des schwarz-roten Modells: „Wir kriegen die Lücke zwischen 183.000 Soldatinnen und Soldaten, die aktuell dienen, und den 203.000, die eigentlich dienen sollten, jetzt schon seit zehn Jahren nicht geschlossen.“
Den geschäftsführenden und wohl auch künftigen Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ficht das nicht an. „Wir gehen davon aus, dass wir mit einem attraktiven Wehrdienst genügend Freiwillige gewinnen werden“, sagte er kürzlich. „Sollte das eines Tages nicht der Fall sein, wird zu entscheiden sein, junge Männer verpflichtend einzuberufen.“
Der Politische Korrespondent Thorsten Jungholt schreibt seit vielen Jahren über Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Justiz und die FDP.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke