Das Urteil von Hanna Veiler über die Freie Universität Berlin ist hart. „Ich würde das ‚Freie‘ im Namen der Hochschule gerne streichen“, sagt die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) am Donnerstagmorgen. „Jüdische und mit Israel solidarische Studentinnen und Studenten können sich dort nicht mehr frei bewegen.“

Zahlreiche antisemitische Vorfälle hatte es im Umfeld der Exzellenzuniversität seit dem genozidalen Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 gegeben. Im Dezember 2023 besetzten israelfeindliche Aktivisten einen Hörsaal. Der jüdische Student Lahav Shapira, der sich zuvor gegen diese Aktivisten positioniert hatte, wurde nicht hineingelassen.

Im Februar 2024 kam es zum Höhepunkt der Eskalation: Ein arabischstämmiger Kommilitone griff Shapira außerhalb der Universität an und verletzte ihn schwer. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm gefährliche Körperverletzung vor und geht von einem judenfeindlichen Motiv aus.

Bei den Besetzungen kam es zu gewaltverherrlichenden Äußerungen gegenüber Zionisten – die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden steht für das Verteidigungsrecht Israels ein –; es wurden Hamas-Symbole gezeigt und zur Vernichtung des jüdischen Staates aufgerufen.

Im Dezember des vergangenen Jahres verhinderte die FU schließlich eine Ausstellung einer britischen Holocaust-Gedenkstätte über antisemitische Pogrome. Die Schau könne „emotionale Reaktionen“ hervorrufen, teilte eine Sprecherin der „Jüdischen Allgemeinen“ damals mit. Man befürchte „intensive Debatten“, die in einem öffentlichen Durchgangsraum „womöglich nicht adäquat aufgefangen werden könnten“.

Und dann war da noch die Einladung der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, die in den vergangenen Jahren mit zahlreichen israelfeindlichen und antisemitischen Aussagen aufgefallen war. Nur auf Druck von jüdischen und anderen Organisationen wurde sie wieder ausgeladen.

Die Jüdische Studierendenunion (JSUD) hält Berlin zwar für einen „Hotspot“ solcher Vorfälle, aber bei Weitem nicht für eine Ausnahme. Dies geht aus einem Lagebericht hervor, den die Organisation am Donnerstag gemeinsam mit dem American Jewish Committee Berlin (AJC) vorgestellt hat.

Demnach hat es an zahlreichen großen Universitäten Protestcamps israelfeindlicher Aktivisten gegeben, bei denen es zu antisemitischen Äußerungen gekommen ist. Jüdische Studenten wurden eingeschüchtert. Andernorts wurde ihnen von ihrer Hochschule verboten, Plakate der israelischen Geiseln aufzuhängen.

Studenten verteilten antisemitische Propaganda auf dem Campus, glorifizierten islamistischen Terror, rechtfertigten oder leugnen in Chatgruppen das Hamas-Massaker, verteilten Sticker mit Aufrufen zur Intifada, deuteten die Solidarität der Bundesregierung mit Israel zur geheimen Verschwörung um.

Und sie schrien eine Richterin des obersten israelischen Gerichtshofs nieder, die übrigens eine scharfe Kritikerin der israelischen Regierung und der Justizreform des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ist. „Die Schreienden im Raum sahen in ihr nur die Zionistin, das Feindbild, das es auszulöschen gilt“, heißt es im Lagebericht.

Viele Unis seien keine „sicheren Orte mehr“

JSUD-Präsidentin Veiler stellt einen „Ausnahmezustand“ fest, in dem sich jüdische Studenten seit dem 7. Oktober befänden. Viele Universitäten seien seitdem „keine sicheren Orte mehr“. „Sie bleiben aus Angst dem Campus fern, verstecken ihre jüdische Identität oder trauen sich aufgrund der massiven antiisraelischen und antisemitischen Agitation an den Universitäten nicht, ihre Meinung zu äußern“, sagt die 26-Jährige.

Die Universität werde gemieden, selbst Partys und neue Bekanntschaften seien „kein ,safe space‘ mehr“, so Veiler. „Was am meisten schmerzt, ist der Verlust von Verbündeten und Freundschaften.“ Viele Gruppen und Einzelpersonen, mit denen man zuvor jahrelang für eine demokratische und gerechte Gesellschaft eingestanden sei, würden „wegschauen, wenn es Jüdinnen und Juden sind, die in Gefahr sind“ – etwa feministische Organisationen, die zu den Vergewaltigungen durch Hamas-Terroristen schwiegen.

Von WELT auf die politischen Hintergründe derjenigen angesprochen, von denen der Antisemitismus an Hochschulen ausgehe, spricht Veiler über das antiimperialistische Spektrum der radikalen Linken sowie über Islamisten. „Organisationen, die junge Muslime radikalisieren, finden sich auch am Campus wieder“, sagt sie – und berichtet von einer „erschreckenden Allianz“: „Linksradikale, die mit islamistischen Gruppen gemeinsame Sache machen.“

Hinzu komme an den Hochschulen eine Gruppe von Menschen, die die Teilnahme an israelfeindlichen Protesten „für einen Trend halten und dabei auch mit Extremisten und Islamisten gemeinsame Sache machen“. Diese Gruppe habe sich etwa mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt inhaltlich kaum auseinandergesetzt. „Sie glauben, es sei normaler Teil des Studentenlebens, bei solchen Demos mitzulaufen“, sagt Veiler.

AJC-Direktor Remko Leemhuis beobachtet diesbezüglich eine schnelle Radikalisierung zuvor unpolitischer Studenten. „Sie kommen in kürzester Zeit dabei raus, zur Vernichtung Israels aufzurufen“, sagt er. Viele Hochschulleitungen seien „unfähig, sicherzustellen, dass Juden ohne Angst auf den Campus kommen können“.

Die „Jüdische Allgemeine“ berichtete am Mittwoch darüber, dass Veiler sich aufgrund des großen Erfolgs der AfD bei der Bundestagswahl dazu entschieden hat, Deutschland zu verlassen. „Das war nicht der einzige Grund, eher der letzte Tropfen“, sagt sie WELT.

Spätestens seit der Documenta im Jahr 2022 werde in „jungen jüdischen Kreisen“ immer wieder darüber gesprochen, ob man sich in Deutschland ein Leben aufbauen solle. Auch Judenhass unter radikalen Linken und Muslimen spiele hier eine Rolle. „Am stärksten hat das mit meiner Rolle in den vergangenen zwei Jahren als Funktionärin zu tun“, sagt Veiler. „Ich habe mich sehr intensiv mit diesen Dingen beschäftigt und brauche Abstand zu all den Entwicklungen in diesem Land.“

JSUD und AJC erheben nun mehrere politische Forderungen, um den Judenhass an Hochschulen einzuhegen. Antisemitische Veranstaltungen müssten unterbunden werden, das Hausrecht müsse auch mithilfe der Polizei durchgesetzt werden. Es brauche Ansprechpersonen; verpflichtende Fortbildungen in der universitären Lehre, eine Meldepflicht für antisemitische Vorfälle bei den Bildungsministerien sowie eine Beendigung der Kooperation mit Hochschulen der Islamischen Republik Iran. AJC-Direktor Leemhuis schlägt zudem einen Visaentzug für ausländische Studenten vor, wenn diese hier Straftaten begehen; in den USA hat Donald Trump eine entsprechende Präsidialverordnung erlassen.

Politikredakteur Frederik Schindler berichtet für WELT über die AfD, Islamismus, Antisemitismus und Justiz-Themen. Zweiwöchentlich erscheint seine Kolumne „Gegenrede“.

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