Eigentlich hatte sich Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger mehr Einfluss im Bund gewünscht. Auftakt war seine viel zitierte Rede auf dem Volksfestplatz in Erding im Juni 2023. Gegen grüne Heizungspolitik, gegen grüne Wirtschaftspolitik, gegen grüne Genderpolitik, gegen immer höhere Staatsschulden. Bei der bayerischen Landtagswahl 2024 war er damit erfolgreich und holte mit fast 16 Prozent das bisher beste Ergebnis für die Freien Wähler.

Aber die Bundestagswahl vor drei Wochen war dann mit nur 1,5 Prozent der Zweitstimmen eine Pleite. Trotzdem dürfte es gerade kaum einen anderen Politiker geben, der so viel Einfluss auf die Möglichkeiten der künftigen Bundesregierung hat wie Aiwanger.

Er ist nämlich neben seinem Amt als Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in der Koalition mit Bayerns Regierungschef Markus Söder (CSU) auch der bayerische Vertreter im Bundesrat – und Ausschlag gebend für die sechs bayerischen Stimmen in der Länderkammer. Ohne Aiwanger kann den der voraussichtlich nächste Kanzler Friedrich Merz (CDU) mit seiner geplanten schwarz-roten Koalition die in der Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse nicht lockern. Denn nicht nur im Bundestag, auch im Bundesrat ist dafür eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich. Und die ist ohne die bayerischen Stimmen nur äußerst schwierig zu erreichen. Am kommenden Freitag soll die Länderkammer tagen, vorausgesetzt, Union und SPD schaffen am Dienstag mit dem abgewählten alten Bundestag noch den ersten Teil der Entscheidung.

Der Druck auf Aiwanger ist an diesem Wochenende beträchtlich – und kommt von allen Seiten. CSU-Chef Söder fordert Aiwangers Zustimmung zu dem Ausgaben- und Schuldenpaket für Verteidigung und Infrastruktur, über das er selbst mit CDU und SPD mitverhandelt hat. Für Aufregung sorgte eine Meldung der Nachrichtenagentur dpa, laut der die Landräte der Freien Wähler in Bayern gegen Aiwanger und für Söder und Merz Stellung beziehen. Aber die stimmte so nicht, die Agentur musste sie korrigieren.

Hätte sie gestimmt, wäre das vermutlich auch eine private Beziehungskrise im Hause Aiwanger gewesen, denn seine Lebensgefährtin ist Tanja Schweiger, Landrätin des Landkreises Regensburg. Die äußerte sich auf ihrem Facebook-Profil „fassungslos“ darüber, wie man aus einer „einfachen Pressemitteilung“ einen „Skandal innerhalb der Freien Wähler heraufbeschwören kann“. Und zur Sache schrieb sie: „Dass die Bundeswehr eine Reform braucht, ist hinlänglich bekannt und sicherlich auch Konsens.“ Aber: „Dass wir strukturelle Defizite haben, ist auch unbestritten. Nur die kann man nicht mit einem weiter so durch zusätzliches Geld lösen, sondern eben mit strukturellen Veränderungen. Die erkenne ich bisher noch zu wenig.“

Parteiintern durchaus umstritten

Noch deutlicher wird sie mit ihrer Kritik an CDU-Chef Merz. Dessen Manöver nach dem Wahltag – weg von einem strikten Sparkurs hin zu gigantischen Neuverschuldungsplänen – nennt sie eine „180-Grad-Wendung“, die das „Vertrauen der Menschen in die Politik“ erschüttere.

Heißt das jetzt ja oder nein zur Verfassungsänderung? Das wüssten viele gerade gern. Bei den Freien Wählern will dazu übers Wochenende freilich niemand reden. Aiwanger, auf den es in Person ankommt, dürfte sich darüber selbst noch nicht ganz klar sein. Ginge es allein nach seinem ordnungs- und fiskalpolitischen Kompass, dürfte ein Nein herauskommen. Aber es geht auch um seine bayerische Regierungskoalition mit der CSU und um die Einheit seiner Freien Wähler. Und da gilt womöglich ein anderer Kompass.

„Die Schuldenbremse muss beibehalten werden“, widersprach Aiwanger den schwarz-roten Plänen. Nur so werde der Reformdruck aufrechterhalten. Ein „ordentliches Sondervermögen“ in Höhe von 400 Milliarden Euro sei auch ohne Verfassungsänderung möglich. Florian Streibl, der die Freie-Wähler-Fraktion im bayerischen Landtag führt, bekräftigte, die Schuldenbremse sei im bayerischen Koalitionsvertrag vereinbart und garantiere die Stabilität des Euro.

Die Freien Wähler verstehen sich nicht als herkömmliche Partei, sondern als Zusammenschluss lokaler Wählergruppen. Dass Aiwanger nach seiner fulminanten Volksrede in Erding plötzlich bundesweit zur politischen Figur wurde, war intern durchaus umstritten. Zum einen deshalb, weil etliche lokale Gruppen unter keinen Umständen zur bürgerlichen Alternative für frustrierte Unionswähler werden wollten und sich selbst eher auf der grünen Seite des Spektrums sehen – mehr Öko, mehr Tierschutz, gegen Kernkraft.

Damit sind sie trotz ihrer Widersprüche bisher erfolgreich. In Bayern stellen die Freien Wähler 13 der 71 Landräte. Noch stärker und prägend sind sie in Städten und Gemeinden. Nach Freie-Wähler-Angaben gehören 1000 der 2000 bayerischen Bürgermeister keiner der traditionellen Parteien an. Darunter sind etliche ohne jegliche Parteizugehörigkeit, die die Partei der Freien Wähler aber als Teil ihrer parteifreien Basisbewegung sieht.

Wie erfolgreich die „Bewegung“ ist, zeigt symbolhaft die Gemeinde Rott am Inn. Rott war die Heimat von CSU-Ikone Franz Josef Strauß. Die Gemeindeverwaltung liegt im selben barocken Gebäuderiegel wie die bis heute von der Strauß-Familie genutzte Privatwohnung und das Mausoleum, in dem der CSU-Patriarch beigesetzt ist. Aber Bürgermeister ist seit der vorigen Kommunalwahl der parteilose Daniel Wendrock, aufgestellt von einem freien Wählerbündnis und der SPD, freilich auch ohne Bindung an die Freie-Wähler-Partei, die es in Rott und in weiten Teilen Oberbayerns gar nicht gibt.

Zerbricht die Koalition in Bayern?

Das ist die Basis, auf die Aiwanger auch schauen muss, will er den Basiserfolg der Freien Wähler nicht gefährden. Und um die Sache zu verschärfen, macht sein großer Koalitionspartner CSU mit Söder maximalen Druck. Für Montag hat Söder den bayerischen Koalitionsausschuss zu einer Krisensitzung einberufen, um Aiwanger umzustimmen. Die Rede ist sogar davon, die Koalition in Bayern könne zerbrechen.

Als Ersatz drängt die SPD heran. Deren Ex-Vorsitzender und heutiger Landtags-Vizepräsident Markus Rinderspacher bot an, für die Freien Wähler als neuer Koalitionspartner einzuspringen. Das wäre freilich eine verwegene Aktion, denn bis Freitag vor der Bundesratssitzung müsste das Bündnis mit den Freien Wählern beendet und eine neue Koalition der CSU mit der SPD im Freistaat geschlossen sein – alles in nur fünf Tagen.

Das dürfte Söder kaum wagen. Denn auch für ihn steht einiges auf dem Spiel. Kommendes Jahr sind wieder Kommunalwahlen. Und da muss die CSU eher fürchten, noch mehr Rathäuser zu verlieren, statt welche zurückzugewinnen.

Christoph Lemmer berichtet für WELT als freier Mitarbeiter vor allem über die Politik in Bayern.

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