Deutschlands Syrien-Dilemma wird offenbar, als sich – inmitten von Trümmern – Außenministerin Annalena Baerbock von Mahmud Abu Fahand verabschiedet. Sie muss weiter, später wird sie den neuen syrischen Präsidenten Ahmed al-Scharaa treffen. „Er ist einzigartig“, sagt Mahmud Abu Fahand ehrfürchtig, „wirklich eine Respektperson“. Der Friedhofswärter hat die Außenministerin durch das Viertel Jobar in der syrischen Hauptstadt Damaskus geführt, das im Bürgerkrieg nahezu gänzlich zerstört wurde.

Baerbock reagiert verhalten. „Das versuchen wir gerade herauszufinden, um ganz ehrlich zu sein“, sagt sie. Zwar will sie daran glauben, dass der Mann, dessen Miliz im Dezember den langjährigen Diktator Baschar al-Assad besiegt hat, Syrien einen und befrieden kann.

Doch die vorläufige Ruhe nach dem Sturz des Diktators nahm ein jähes Ende, als die Gewalt Anfang März in der syrischen Küstenregion um Latakia eskalierte. Nun sieht man sich in Berlin und Brüssel mit der Frage konfrontiert, ob die neue Regierung künftig Teil des Problems oder Teil der Lösung sein wird. Das Land, so formuliert es Baerbock, stehe „auf Messers Schneide“.

Die Sorge ist groß, dass eine Befriedung Syriens missglückt. Die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings resultierten wahlweise in gescheiterten Nationen, siehe Libyen. Oder in der Rückkehr autokratischer Regime, wie etwa in Ägypten. Ob Syrien einen dritten Weg finden kann, ist offen.

Das Land schwankt zwischen Erleichterung über das Ende des Assad-Regimes, Hoffnung auf eine bessere Zukunft und massiven Ängsten vor einem neuen Abgleiten in Gewalt. Die Geschehnisse an der syrischen Westküste wirken da wie ein düsterer Vorbote.

„Die Menschen wurden aufgestachelt“

Anfang März hatten bewaffnete Anhänger der gestürzten Regierung in der Stadt Latakia Sicherheitskräfte angegriffen. In der Region leben viele Alawiten, eine religiöse Gemeinschaft, der auch Assad angehörte. Die neuen Machthaber reagierten mit einer Militäroperation.

„Das Problem lag darin, dass am Donnerstagabend viele Moscheen im Land die Leute aufgerufen haben, gemeinsam mit den offiziellen Sicherheitskräften zu kämpfen. Die Menschen wurden aufgestachelt“, sagt eine Forscherin mit Schwerpunkt auf Konfliktdynamiken in Syrien. Sie ist selbst Alawitin, ihre Familie lebt in der Küstenregion. Aus Sicherheitsgründen wird ihr Name hier nicht genannt, aber er ist der Redaktion bekannt.

Die Militäroperation, die eigentlich die Ordnung an der Küste nach dem Angriff der Assad-Loyalisten wiederherstellen sollte, mündete in eine Racheaktion. Das neue Syrien ist nicht nur ein Land vor einem Neuanfang, sondern auch eines voller offener Rechnungen. Alte Verbrechen des Regimes sind ungesühnt, der Wunsch nach Vergeltung stark – und er richtet sich vor allem gegen Alawiten, die als Stütze des Assad-Regimes galten.

Also bewaffneten sich Männer aus verschiedenen Regionen Syriens, fuhren an die Küste und überfielen Wohnhäuser. Die alawitische Forscherin hat in den Tagen nach den Vorkommnissen mit Betroffenen und Überlebenden in der Region telefoniert und ihre Aussagen dokumentiert.

Sie erzählt von einer Familie aus dem Harfoush-Stamm, einer einst einflussreichen schiitischen Dynastie. Mutter, Vater, und drei erwachsene Söhne, zwei Ärzte und ein Architekt, seien vor dem Gewaltausbruch in die Hafenstadt Baniyas gereist, um Freunde und Verwandte zu besuchen. „In der Familie gab es keine Armeeangehörige aus der Assad-Zeit“, sagt die Forscherin. „Es waren alles Zivilisten.“

Dann sei das Haus, in dem die Familie übernachtete, von Kämpfern überfallen worden. „Sie traten die Tür ein und fragten: ‚Seid ihr Sunniten oder Alawiten?‘ Sie sagten, dass sie Alawiten seien. Sie wurden alle erschossen.“ Menschenrechtsorganisationen sprechen von mindestens 1500 Toten, die genaue Zahl ist derzeit nicht zu bestimmen.

Forderung nach Aufarbeitung der Verbrechen

Der syrische Zivilschutz, auch Weißhelme genannt, leistete in den Tagen und Wochen nach dem Gewaltausbruch Hilfe in der Region und barg einige der Toten, darunter drei Kinder. Die Organisation veranstaltet auch Aktivitäten für Syrer unterschiedlicher Gruppen – Sunniten, Alawiten, Drusen, Kurden, Christen –, um ein inklusives Miteinander zu fördern. „Aber was in Latakia passiert ist, hat vieles von dem zerstört, woran wir arbeiten“, sagt Ammar al-Selmo, Vorstandsmitglied der Weißhelme.

Der 39-Jährige trägt die gelb-blaue Weste seiner Organisation. Er betont, dass die Verbrechen der Vergangenheit aufgearbeitet werden müssten, um die Wunden der Bevölkerung zu heilen. „Wir dürfen nicht ignorieren, dass erfahrene Täter des alten Regimes, die in den vergangenen 14 Jahren Tausende ermordet haben, weiterhin auf freiem Fuß sind. Jede Verzögerung von Gerechtigkeit und Rechenschaft ist der Grund für das, was in Latakia geschehen ist“, sagt er. Doch die Verantwortung dafür trage die neue Regierung: „Sie hat nicht geschafft, die Zivilisten zu schützen.“

In einem Interview von al-Dschasira aus dem Jahr 2015 beschrieb Präsident al-Scharaa, damals Anführer der islamistischen al-Nusra-Front, die Alawiten als eine Gruppe, die sich „außerhalb der Religion von Gott und dem Islam“ bewege. Er sagte aber auch, sie seien nicht das Ziel von Racheakten. Nach dem jüngsten Gewaltausbruch an der Küste kündigte al-Scharaa an, die Verantwortlichen würden bestraft und man werde „jeden zur Rechenschaft ziehen, der am Blutvergießen unter der Zivilbevölkerung beteiligt war“. Ein Untersuchungsausschuss soll die Ereignisse beleuchten.

Al-Scharaa steht von vielen Seiten unter Druck: Er soll das Land einen, braucht finanzielle Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft und muss gleichzeitig mit radikalen Vertretern in den eigenen Reihen umgehen, die einen strikten islamistischen Kurs befürworten. Für Länder wie Deutschland ist der Umgang mit Minderheiten ein wichtiger Gradmesser für die Richtung, die al-Scharaa und seine Leute einschlagen.

Suche nach Wegen aus der Krise

Baerbock sagte in Damaskus, sie habe dem Präsidenten und dem Außenminister vermittelt, „dass es jetzt an ihnen liegt, den Worten Taten folgen zu lassen, extremistische Gruppen in den eigenen Reihen unter Kontrolle zu bringen und die Verantwortlichen für Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen“.

Dass dies auch dann gilt, wenn eine neue Bundesregierung die Geschäfte in Berlin übernimmt, machte die Präsenz des Unionsabgeordneten Armin Laschet bei den Gesprächen deutlich. Denn Berlin steht vor einem Dilemma, das die scheidende Bundesregierung überleben wird.

Soll man die neuen Machthaber in Damaskus unterstützen, um einen Weg aus der Krise zu ebnen? Ohne – vor allem finanzielle – Hilfe droht das Land in die Instabilität abzurutschen. Und jede Gewalt wirkt sich unmittelbar auf Fluchtbewegungen nach Europa aus. Oder unterstützt man die Falschen und stärkt damit unbeabsichtigt extremistische Elemente? Eine eindeutige Antwort wird es nur in der Rückschau geben.

Bis dahin lassen sich nur aus Indizien erste Schlüsse ziehen. In der neuen syrischen Verfassung heißt es, der Staat respektiere alle „himmlischen Religionen“. Um zu verstehen, was damit gemeint ist, lohnt sich ein Besuch in der Umayyaden-Moschee von Damaskus, eine der ältesten und bedeutendsten islamischen Gotteshäuser.

Im prächtigen Innenraum, der mit rotem Teppich ausgelegt ist, endet gerade das Mittagsgebet. Einer der Imame, Omar al-Sagheer, erklärt sich zum Gespräch bereit. „Zu den himmlischen Religionen gehören das Christentum, das Judentum und der Islam“, sagt er. Und die Alawiten? „Alle Teile der syrischen Bevölkerung werden ihre Rolle spielen und ohne Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Konfession oder Religion am Wiederaufbau des Landes mitwirken“, sagt der Imam.

Es sind Worte, ebenso wie jene von Präsident al-Scharaa, denen die Menschen Glauben schenken möchten. Die Zukunft Syriens hängt davon ab, ob ihnen Taten folgen werden.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke