Pumpaj, pumpaj, pumpaj“. Der Ruf schallt hunderttausendfach durch die Straßen im Zentrum Belgrads, begleitet vom ohrenbetäubenden Lärm der Tröten und Trillerpfeifen. Übersetzt bedeutet er „Pump dich auf“, ausdrücken soll er, im Protest nicht nachzulassen, Energie und Unterstützung zu verbreiten, wie die Menschen auf den Straßen WELT erklären.

In diesen Tagen Mitte März ist die Energie greifbar, die Unterstützung sichtbar. Aus den Studentenprotesten, die nach dem Einsturz des Bahnhofdachs in Novi Sad am ersten November begannen, ist längst eine Massenbewegung geworden. Unter dem Motto „am 15. für die 15“ hatten die Studenten am Samstag vor einer Woche dazu aufgerufen, in der serbischen Hauptstadt zu demonstrieren. Mit „den 15“ sind die 15 Menschen gemeint, die in der nordserbischen Stadt ums Leben kamen.

Die Studenten vermuten Korruption und Inkompetenz als Gründe für das Unglück. Sie fordern die Freigabe von Dokumenten, damit Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden können. Als Konsequenz sind mittlerweile zwar Ministerpräsident Milos Vucevic und zwei Minister zurückgetreten, wegen des Einsturzes wurden außerdem 13 Personen angeklagt. Doch den Studenten und ihren Unterstützern reicht das nicht.

Ein Systemwechsel soll her, die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit wieder normal, Korruption effektiv bekämpft werden. Trotz all dieser politischen Forderungen aber vermeiden die jungen Menschen die Vereinnahmung ihres Protestes durch die politische Opposition, schützen sich vor möglichen Repressalien der Regierung von Aleksandar Vucic auch damit, dass es keine bekannten Anführer gibt.

Am Samstag ziehen mehrere Demonstrationszüge aus unterschiedlichen Stadtteilen Richtung Zentrum. 300.000 Menschen sollen am vorläufigen Höhepunkt der monatelangen Proteste teilgenommen haben. Dass der Nahverkehr aus „Sicherheitsgründen“ eingestellt wurde, Busse und Trams in den Depots bleiben, hält die Menschen nicht auf.

Genauso wenig wie die Drohungen und Einschüchterungsversuche von Präsident Vucic. In den Tagen vor den Massenprotesten hatte er vor den „schwersten Verbrechen gegen Serbien, die begangen werden würden“ gewarnt, den Demonstranten einen Angriff auf die Verfassung unterstellt, ihnen mit Verhaftungen gedroht. Ohne Erfolg.

Auch die Älteren, die sich den Studenten anschließen, sehen sich in der Pflicht. Während sie im Demonstrationszug Richtung Skupstina, der Nationalversammlung, mitläuft, erzählt die Historikerin Biljana Jovanovic, dass ihre Generation zu viel Zeit verschlafen habe. Die ihres Sohnes sei es, die aufgewacht sei, den Schaden sehe, den das Land unter Vucic nähme, etwas verändern wolle. Hier mitzulaufen sei das mindeste, was sie und die anderen Eltern und Großeltern nun unternehmen können.

Der 29-jährige Marko, der seinen Nachnamen für sich behält, ist mit Freunden auf einem Traktor gekommen. Es müsse Schluss sein mit Nepotismus und Günstlingswirtschaft, dass Posten nach Beziehungen verteilt würden und nicht nach Leistungen, sagt er. Um die Mittagsstunde marschieren vor der Skupstina an die hundert Männer auf, in Reih und Glied. Fragen beantworten sie nicht. Es sind Veteranen der 63. Fallschirmjägerbrigade. Gemeinsam mit zu Hunderten angereisten Bikern wollen sie die Studenten vor eventuell ausbrechender Gewalt schützen.

Die Sorge ist nicht unbegründet. Im Pionierpark gegenüber der Nationalversammlung campen seit Tagen Gegendemonstranten. Sie nennen sich „Studenten, die studieren wollen“. Etliche von ihnen haben jedoch ein Alter erreicht, in dem der Rentenbescheid näher ist als das Diplom her. Der Verdacht, den viele hegen und im Gespräch mit WELT äußern, ist, dass es sich um Unterstützer Vucics handelt, und möglicherweise bezahlte Provokateure unter ihnen sind.

„Caciland“ wird der Park spöttisch genannt, „Caci“ für diejenigen, die dort angeblich für ihr Recht demonstrieren, zu studieren. Der Ursprung des Worts geht auf einen Unbekannten zurück, der es in Novi Sad auf den Boden vor einer Schule geschrieben hatte – mit der Aufforderung, zurück in ebendiese zu gehen. Nur war das Wort für „Schüler“, nämlich „djaci“, falsch geschrieben. Und so hat „Caci“ Einzug gehalten in den Wortschatz der Protestbewegung, als Abwertung derer, die nicht auf ihrer Seite sind.

Die Polizei hält sich zurück

Die Sorge war groß, dass die „Caci“ und ihre Beschützer mit den Studenten zusammenstoßen könnten, doch die Studierenden betonen wiederholt den friedlichen Charakter ihres Protestes. Eigene Ordner mit gelben Leibchen dirigieren die Menschenmassen ruhig und bestimmt durch das Zentrum der serbischen Hauptstadt. Vor Ort und über die sozialen Medien wird immer wieder dazu aufgerufen, sich nicht provozieren zu lassen, keinen Alkohol zu trinken, kein Feuerwerk zu zünden. Kurz: Vucics Sicherheitskräften keine Gelegenheit zu bieten, zuzuschlagen.

Die halten sich auch zurück, bis auf die Gendarmerie, die die Skupstina schützt, sind kaum Uniformierte zu sehen und die zivilen Polizisten treten nur in den wenigen Momenten aufkeimender Unruhe in Erscheinung. Ob Präsident Vucic, seit Monaten nun enorm unter Druck, auf Situationen gehofft hat, die ihm ermöglicht hätten, den Protest zu zerschlagen und aufzulösen?

Um 19 Uhr steht das Zentrum Belgrads an diesem Samstag still. Die Menschen schweigen, um der Toten von Novi Sad zu gedenken. 15 Todesopfer, 15 Minuten Stille – so ist der Plan. Dann aber geschehen im Abstand weniger Minuten an zwei Orten Dinge, die den Protest abrupt beenden und das Land seitdem beschäftigen.

Am Pionirski Park, an der Stelle, an der sich die Gegendemonstranten aufhalten, werden Flaschen und Steine geworfen, Knallkörper sind zu hören. Die Ordner der Demonstranten ziehen ihre gelben Westen aus und erklären den Protest vorzeitig für beendet, fordern die Menschen auf, sich ruhig von der Nationalversammlung zu entfernen, aus Sicherheitsgründen.

Wurde eine Schallwaffe eingesetzt?

Doch dann wird das Schweigen plötzlich durch ein Geräusch unterbrochen, einige hundert Meter entfernt, in der Straße Kralja Milana. Ein Geräusch, dass Hunderte dazu bringt, in Panik wegzurennen.

In Richtung des Platzes Slavija laufen sie, durch die dort stehenden Massen, es gibt Gedränge, Menschen werden gegen Häuserwände gepresst, stürzen. Nach wenigen Minuten beruhigt sich die Situation langsam, auch, weil viele die Nerven behalten. Immer wieder ist der Ruf zu hören, nicht panisch zu werden, stehenzubleiben.

Auf etlichen Videos ist der Moment dokumentiert, das Geräusch auch zu hören, die rennenden Menschen zu sehen. Die, die direkt im Einfluss des Tons standen, beschreiben ihn wie einen Düsenjet, der im Tiefflug auf einen zufliegt, einen Schmerz auslösend.

Der Verdacht steht im Raum, dass eine Schallwaffe eingesetzt wurde, um die Menschenmenge entweder zu zerstreuen oder eine Massenpanik hervorzurufen. Der Einsatz dieser Waffen ist in Serbien verboten. Sogenannte Long-Range Acoustic Devices (LRAD) feuern mit enormem Druck Schallwellen ab, die ein extrem lautes Geräusch erzeugen. Solche Waffen werden beispielsweise auf hoher See eingesetzt, um Piraten zu verjagen.

Den ganzen Sonntag über kommen etliche Menschen mit unterschiedlichsten Symptomen in die Notaufnahmen. Von massiven Ohrenschmerzen, perforierten Trommelfellen, Übelkeit und Schwindel wird berichtet. Am Samstagabend äußert sich der Präsident zuerst nur zu den Protesten. „Wir werden uns ändern müssen und vieles dazulernen“, sagt er, nur um dann den Vorwurf einer von außen orchestrierten Revolution zu wiederholen.

Regierung weist die Vorwürfe zurück

Doch da beschäftigt Serbien bereits vor allem die Frage nach dem Ursprung des Geräuschs. Vucic droht in den Stunden danach all jenen mit strafrechtlicher Verfolgung, die behaupteten, die Sicherheitsbehörden hätten eine Schallwaffe eingesetzt, bezichtigt sie der Lüge. Der Innenminister und seine Gefolgsleute variieren in den nächsten Tagen ihre Aussagen zu der Frage, ob die Sicherheitsbehörden über eine Schallwaffe verfügen.

Aus „wir haben ein solches Gerät, aber es steht verpackt in einem Lager“ wurde – nachdem Bilder ein Polizeifahrzeug mit einem aufmontierten LRAD 450 XL auf dem Gelände der Skupstina am 15. März zeigen – die Vorführung des Fahrzeugs und der Schallwaffe mit der Erklärung, sie wäre nur für Durchsagen vorgesehen gewesen.

Mittlerweile versuchen unabhängige Experten, den Fall aufzuklären. Die NGO earshot, laut eigener Aussage spezialisiert darauf, Schallmaterialien zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt zu erforschen, wurde von Aktivisten gebeten, den Vorfall zu untersuchen. Auf X erklärte sie, dass das Geräusch von einer sogenannten Vortex Ring Gun hervorgerufen wurde.

Doch die Regierung bleibt dabei, keine solche Waffe gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt zu haben. Die Studenten und ihr Protest stehen momentan ein wenig im Schatten dieser Diskussion. Der vergangene Samstag war zwar der vorläufige Höhepunkt in ihrem Kampf gegen das System Vucic, doch er ist noch nicht vorbei. „Das ist kein Sprint, sondern ein Marathon“, sagte eine der Rednerinnen vergangene Woche.

Sollte sich aber beweisen lassen, dass die Sicherheitsbehörden Schallwaffen eingesetzt haben, könnte sich die Lage schneller verändern, als viele derzeit glauben. Aus dem Marathon könnte ein Halbmarathon werden.

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