Die Europäische Union ist an Krisen gewöhnt. Doch die jetzige könnte alle übertreffen. Wenn sich die 27 Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstag in Brüssel versammeln, wissen sie, dass die gesamte europäische Sicherheitsarchitektur seit 1945, die von der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten abhängt, jeden Tag zusammenbrechen könnte.
Seit Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus haben die EU-Staaten viel über Souveränität und Verteidigung gesprochen. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte, dass ein „unglaubliches Erwachen“ notwendig sei; der designierte deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz ist der Meinung, in Europa stehe es „fünf Minuten vor zwölf“.
Beamte europäischer Regierungen sagten gegenüber der WELT-Partnerpublikation „Politico“, sie hätten erkannt, dass der Moment gekommen sei, Worte in Taten umzusetzen. Doch einige befürchten bereits, dass der Versuch schiefgehen könnte – und sich die Dinge schneller entwickeln werden, als Europa verkraften könnte.
„Das Horrorszenario ist, dass die USA bald ein Abkommen ankündigen, das die meisten Forderungen Russlands akzeptiert – und dann der Ukraine und Europa sagen, sie sollen es, so wie es ist, annehmen oder ablehnen“, sagte Malcolm Chalmers, stellvertretender Generaldirektor des Royal United Services Institute in London.
Und nicht nur die USA bereiten den Europäern Sorge. Sie sind auch misstrauisch gegenüber Staaten in ihren eigenen Reihen. Der hastig anberaumte Gipfel am Donnerstag – nur wenige Tage nach informelleren Treffen in Paris und London – signalisiert die Absicht, gemeinsame Lösungen zu finden.
Doch Diplomaten bereiten sich bereits darauf vor, dass eine Gruppe prorussischer Staats- und Regierungschefs unter der Führung des Ungarn Viktor Orbán das Ganze zum Scheitern bringen könnte. Die Dimension der diskutierten Themen und die bedrohlich geringe Einigkeit bedeuten, dass sich dieser Gipfel potenziell in mehrere verschiedene Richtungen entwickeln kann.
Die EU-Staaten werden darüber beraten, wie sie Ressourcen schnell umverteilen können, um die nationalen Armeen zu stärken. Gleichzeitig werden sie versuchen, ihre Unterstützung für die Ukraine zu demonstrieren, indem sie beispielsweise den Weg des Landes zur EU-Mitgliedschaft unterstreichen. Und sie werden ihre Ablehnung des Regimes von Wladimir Putin zum Ausdruck bringen – möglicherweise auch mit der Ankündigung einer weiteren Sanktionsrunde.
„Europa sieht sich einer klaren und gegenwärtigen Gefahr in einem Ausmaß gegenüber, wie es keiner von uns in seinem Erwachsenenleben erlebt hat“, schrieb die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am Dienstag an die Staats- und Regierungschefs der EU. „Die Zukunft einer freien und souveränen Ukraine – eines sicheren und wohlhabenden Europas – steht auf dem Spiel.“
Abschluss einer Woche mit historischen Momenten
Mehr als drei Jahre nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und kaum sechs Wochen nach Trumps Amtsantritt als Präsident bildet der Gipfel am Donnerstag den Abschluss einer Woche mit historischen Momenten auf der anderen Seite des Atlantiks.
Nachdem Macron und der britische Premierminister Keir Starmer noch für positive Stimmung sorgten, als sie sich letzte Woche bei Trump einzuschmeicheln versucht hatten, ging es massiv bergab. Auf ein katastrophales Treffen zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office am Freitag folgte am Dienstag Trumps Entscheidung, die Militärhilfe für das vom Krieg verwüstete Land einzustellen.
Die Finanzierung des Militärs ist eigentlich nicht Aufgabe der EU, aber die Staats- und Regierungschefs werden darüber beraten, wie diese Herausforderung auf zentraler Ebene geregelt werden kann. „Die Verteidigungsausgaben werden zu Fixkosten“, sagte ein europäischer Diplomat. „Wir haben die Sonne abgeschaltet und müssen jetzt jeden Tag für die Heizung bezahlen ... Jeden Tag muss man für Munition bezahlen, zumindest für mehrere Jahre, bis Trump Geschichte ist.“
800 Milliarden Euro an zusätzlichen Verteidigungsausgaben
Eines der ersten Themen, mit denen sich die Staats- und Regierungschefs befassen werden, ist ein am Dienstag durch von der Leyen angekündigter Plan, in den kommenden Jahren bis zu 800 Milliarden Euro an zusätzlichen Verteidigungsausgaben zu mobilisieren.
Konkret sieht der Plan vor, dass die EU 150 Milliarden Euro an Krediten aufnimmt, die an die EU-Regierungen vergeben werden, um europaweite Ausrüstung in Bereichen wie Luft- und Raketenabwehr, Artilleriesysteme, Raketen, Munition oder Drohnen zu finanzieren.
Die Kommission schlägt zudem vor, die EU-Schuldenregeln zu lockern, um es den Regierungen zu ermöglichen, ihr Militär aufzurüsten. Laut von der Leyen würde eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben der Länder um 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts über einen Zeitraum von vier Jahren etwa 650 Milliarden Euro für die gesamte Union bedeuten.
Auch wenn ihre Presseerklärung vom Dienstag schon seit einiger Zeit geplant war, könne sie als direkte Reaktion auf die Entscheidung der USA verstanden werden, die Hilfe für die Ukraine einzustellen, sagten zwei EU-Beamte.
Die Europäische Investitionsbank hat eine Änderung ihrer Investitionsregeln vorgeschlagen, um die Finanzierung von Verteidigungsprojekten zu erleichtern. EU-Diplomaten und -Beamte arbeiten noch an den Details der Vorschläge, aber insgesamt wurden diese als ein erster Schritt in die richtige Richtung gewertet.
„Von der Leyen versucht, den Stier bei den Hörnern zu packen“, sagte ein französischer Minister, der anonym bleiben wollte, um offen sprechen zu können. „Aber wird die bürokratische EU-Struktur folgen?“
Ein Streit über die weitere militärische Unterstützung bahnt sich bereits an. Die Staats- und Regierungschefs werden voraussichtlich darüber beraten, wie die seit Beginn des Ukraine-Krieges eingefrorenen russischen Vermögenswerte verwendet werden sollen.
Zinsen werden für Ukraine-Hilfen genutzt
Die Zinsen aus den Vermögen im Wert von 200 Milliarden Euro werden bereits dafür genutzt, Hilfsmaßnahmen zu finanzieren. Länder wie Frankreich erwärmen sich nun für die umstrittenere Idee, die Vermögenswerte selbst zu beschlagnahmen. Gegner des Plans sagen, dass dies auf rechtliche Hindernisse stoßen und zu finanzieller Instabilität führen könnte.
Die Abschlusserklärung wird erst am Ende des Gipfels veröffentlicht, doch der letzte Entwurf, der am Dienstagabend im Umlauf war und von „Politico“ eingesehen wurde, fordert die Minister auf, einen Weg zu finden, um die Waffenlieferungen voranzutreiben. Beamte sagten, Ungarn weigere sich, dem zuzustimmen.
Der Entwurf betont, dass die EU „die Ukraine weiterhin regelmäßig und vorhersehbar finanziell unterstützen wird“. Die Beamten erwarteten, dass ein Plan in die Abschlusserklärung des Gipfels aufgenommen wird, der im vergangenen Monat von der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas angekündigt wurde. Dieser sieht vor, der Ukraine in diesem Jahr mindestens 1,5 Millionen Schuss Artilleriemunition sowie andere Ausrüstung wie Luftverteidigungssysteme, Raketen und Drohnen zu liefern.
Im Jahr 2025 wird die EU der Ukraine insgesamt 30,6 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Dabei werden die Auszahlungen aus der Ukraine-Fazilität, einem EU-Mechanismus zur Unterstützung Kiews, voraussichtlich 12,5 Milliarden Euro betragen, und die Auszahlungen aus G7-Darlehen im Rahmen der sogenannten „Era-Initiative“ etwa 18 Milliarden Euro. Zukünftige Gelder werden wahrscheinlich aus dem Plan „Rearm Europe“ stammen – der am Dienstag angekündigten Initiative von der Leyens.
Mitarbeit: Gregorio Sorgi
Dieser Text erschien zuerst bei „Politico“. Übersetzt und redaktionell bearbeitet von Lara Jäkel.
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